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Die Illustration zeigt eine gezeichnete Person, die ein Blatt hochhält mit einem U, das auf der Seite rechts oben in einem Pfeil endet. Das U steht als Symbol für die Theorie U.

Theory U (von der Zukunft her handeln)

Teil 3 der Reihe Transformationsmodelle

Aus Sicht der Transformationsforschung „besteht die ‘Große Transformation‘ unserer Gesellschaften hin zu einem sozial und ökologisch global gerechten Zusammenleben nicht aus einer großen Transformation, sondern aus vielen kleinen sequenziell und parallel verlaufenden Transformationsprozessen in verschiedenen Subsystemen, die zu einem Wandel der gesellschaftlichen Entwicklung oder der Systemdynamik führen“ (Göpel/Remig 2014: 70). Dabei kommt es zu Ungleichzeitigkeiten und Brüchen.

Dieser Beitrag ist der dritte Teil unserer Blog-Reihe zu Modellen der Transformation, die erklären, wie wir die sozial-ökologische Transformation voranbringen können. Die vier Modelle erklären den Wandel auf ihre je eigene Art und Weise. Aus diesem Grund werden unterschiedliche Prozesse und Hebel als zentral wahrgenommen und auf dem Weg der Transformation können verschiedene Akteur:innen unterschiedliche Rollen einnehmen. Alle Modelle beinhalten wichtige Perspektiven für zivilgesellschaftliches Engagement und zeigen spannende Andockstellen für die Bildungsarbeit und unser Engagement auf. Die jeweils unterschiedlichen Schlussfolgerungen für die praktische Anwendung fassen wir für dich zusammen. 

(Die Reihe schließt am 05.12.23 mit dem systemischen Modell von Germanwatch.)

Theorie U

In diesem Beitrag stellen wir euch die Theorie U vor.

Das Konzept der „Theorie U“ wurde von dem Ökonomen Prof. Dr. Otto Scharmer und seinem Team am Massachusetts Institute for Technology (MIT) entwickelt. Seit mehr als 15 Jahren forschen die Wissenschaftler:innen am eigens dafür gegründeten „Presencing Institute“ zu unternehmerischen und gesellschaftlichen Veränderungsprozessen.

Leitende Idee: Presencing — learning from the emerging future

 

Zentrale Aussage

Im Wesentlichen geht es bei der Theorie U darum, ein Bewusstsein und eine Haltung zu entwickeln, mit der ein Individuum oder eine Gruppe Veränderungsprozesse zunächst erkennen und letztlich gut gestalten kann. Der Blick in eine Zukunft, die erst entstehen möchte („Presencing“), öffnet dabei den Zugang zu wirklich neuen Handlungsmöglichkeiten. Der Veränderungsprozess umfasst dabei sieben Schritte auf vier Ebenen.

Copyright: Germanwatch e.V. | Illustration: Benjamin Bertram

7 Schritte auf 4 Ebenen

Die 7 Schritte sind folgende:

  1. Downloading (herunterladen, bewerten und beurteilen): Bevor der Veränderungsprozess beginnt, wird die Welt mit gewohnheitsmäßigen Denkmustern betrachtet, die sich stetig wiederholen.

  2. Seeing (hinsehen und faktisch zuhören): Ein klarer Blick auf die gegenwärtige Situation und Zuhören – sich selbst und den anderen – ohne Wertung: Welche Aufgabe liegt vor mir/uns?

  3. Sensing (hinsehen und empathisch zuhören): Voneinander lernen, verschiedene Perspektiven betrachten und innovative Ansätze kennenlernen: Was ist schon alles da?

  4. Presencing (mit der Quelle verbinden, anwesend werden): Spüren, was zu tun ist. Wer bin ich und was ist meine Aufgabe?

  5. Crystallizing (verdichten): Eine Vision und neues Denken, Ideen und Konzepte auftauchen und wachsen lassen: Wie möchte ich die Zukunft gestalten?

  6. Prototyping (erproben und ausprobieren): Die Ideen testen und weiterentwickeln und so neue Prototypen und Prozesse schaffen.

  7. Performing (in die Welt bringen): Lernen und Professionalisieren – neue Strukturen und Praktiken, die sich bewährt haben, verstetigen und weiter verfeinern.

Die 7 Schritte finden auf folgenden 4 Ebenen statt:

  • Handeln/praktische Intelligenz: Vertraute Handlungsmuster werden im Laufe des Prozesses ersetzt und so neue Strukturen geschaffen.

  • Denken/rationale Intelligenz (IQ): Hier geht es um ein Innehalten und Reflektieren über das eigene Denken und Handeln: Welche Annahmen oder Motive stecken dahinter? Was möchten wir im Sinne des Ganzen in die Welt bringen?

  • Fühlen emotionale Intelligenz (EQ): Bewusstes Nachdenken über die eigenen Gefühle und empathisches Hineinspüren in andere, um die Perspektive zu weiten und Neues hervorbringen zu können: Wie geht es mir/anderen in der aktuellen Situation? Was beflügelt mich/uns bei dieser Projektidee?

  • Sein/spirituelle Intelligenz (SQ): Durch die tiefe Reflexion über die eigene Identität und den Sinn des Lebens oder auch die Verbindung mit den eigenen spirituellen Quellen gelingt es, alte Denk- und Handlungsmuster loszulassen und Raum zu schaffen für Neues, dass entstehen möchte.

Das Besondere an der Theorie U ist, dass sie so stark in die Tiefe geht und emotionale und spirituelle Intelligenz, die in anderen Veränderungsmodellen in der Regel kaum eine Rolle spielen, als wesentliche Elemente des Prozesses einschließt.

„Presencing (Gegenwärtigung oder Anwesendwerden) ist die Verbindung von zwei Begriffen: presence (Anwesenheit) und sensing (spüren). Presencing heißt, sein eigenes höchstes Zukunfts-Potenzial zu erspüren, sich hineinziehen zu lassen und dann von diesem Ort aus zu handeln – d.h. Anwesendwerden im Sinne unserer höchsten zukünftigen Möglichkeit.“

(Otto Scharmer)

Um Menschen und Gruppen beim Durchlaufen der Schritte und Ebenen in einem Veränderungsprozess zu unterstützen, haben Otto Scharmer und sein Team zusammen mit Kooperationspartner:innen unter anderem aus der Achtsamkeitsforschung und der Körperarbeit viele Methoden und Praktiken entwickelt beziehungsweise zusammengetragen. Dem Presencing Institute gelang es, mit „Massive Open Online Courses“ (MOOCs) seit 2015 über 150.000 Menschen aus 185 Ländern die Theorie U und einen umfangreichen Methodenkoffer zu vermitteln und so eine weltumspannende Community of Practice für bewusstseinsbasierten Systemwandel aufzubauen.

Key-Take-Aways

Was sind deine Take-Aways? Wenn du an deine eigene Bildungsarbeit denkst: Was erklärt das Modell und was nicht? Wenn du an dein eigenes Engagement denkst: Wofür nützt es dir dieses Modell zu kennen? Wofür eher nicht? Wir haben ein paar Pro und Kontras gesammelt, die du hier aufklappen kannst.

  • Anwendbarkeit auf große und kleine Systeme

  • Tiefe innere Reflexion und ein verändertes Bewusstsein ermöglichen es, kollektive und co-kreative Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen zu entwickeln

  • Bringt rationale und emotionale Ebene zusammen

  • Keinen differenzierten Blick auf unterschiedliche Systemlogiken der Akteur*innen im bestehenden System (Politik, Wirtschaft…)

  • Keine konkreten Rollen, die für einen gesellschaftlichen Transformationsprozess notwendig sind

Website des Presencing Institute: www.presencing.org 

Scharmer, C. O. (2009): Theorie U: Von der Zukunft her führen: Presencing als soziale Technik. 

Dieser Beitrag stammt ursprünglich aus der Publikation Transformation gestalten lernen. Die komplette Broschüre zum Download gibt es hier.

Literatur

Göpel, M.; Remig, M. (2014): Mastermind of System Change. Karl Polanyi and the “Great Transformation”. In: GAIA – Ecological Perspectives for Science and Society 23(1): 70-72.

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